Dirigieren ist eine irrationale Angelegenheit

Robert Stehli, Gründer und Leiter der KlassikPhilharmonie Hamburg, feiert seinen 80. Geburtstag
Der 1930 in Zürich geborene Dirigent Robert Stehli hat in den letzten 50 Jahren maßgeblich zur Entwicklung des Musiklebens in Hamburg beigetragen. 1957 gründete er das Hamburger Bach-Orchester, das drei Jahre später mit dem Hamburger Kammerorchester und dem Hamburger Symphonieorchester zum Vereinigten Hamburger Orchester fusionierte - den heutigen Hamburger Symphonikern. Bis 1963 leitete Stehli das Orchester, wurde dann Chefdirigent des Niedersächsischen Symphonieorchesters Hannover und ständiger Gastdirigent des Nordgriechischen Staatsorchesters in Thessaloniki. 1978 gründete er das Hamburger Mozart-Orchester, die heutige KlassikPhilharmonie, die er seit 31 Jahren leitet. 2003 wurde ihm für seine Verdienste um das Hamburger Musikleben die Biermann-Ratjen-Medaille verliehen.

Herr Stehli, wie wird man ein guter Dirigent?

Ich bin nicht sicher. An den Hochschulen in Zürich und Lübeck hatte ich nie besonders gute Lehrer. Ich habe eigentlich alles bei Wolfgang Sawallisch gelernt - damals Generalmusikdirektor in Hamburg -, bin zu sämtlichen seiner Proben und Konzerte gegangen und habe mich in St. Michaelis sogar in die Bassgruppe der Singakademie eingeschlichen, um ihn einmal dirigierend von vorne zu erleben. Das weiß er bis heute nicht.

Genügt es, wenn man als Dirigent sein musikalisches Handwerk beherrscht?

Nein. Ein Dirigent muss sehr viel psychologisches Gespür besitzen. Er muss aufpassen, dass er niemanden persönlich beleidigt. Wenn er zu einem Oboisten sagt: "Können Sie das nicht etwas leiser spielen?", ist das schon beleidigend. Trotzdem ist es wichtig, eine gewisse Autorität zu wahren. Der Dirigent darf sich mit den Musikern auf keinen Fall duzen. Das wäre der Anfang vom Ende.

Läuft man bei zu viel Distanz nicht Gefahr, sich unbeliebt zu machen?

Ob ein Orchester den Dirigenten mag, hängt nicht vom Dirigenten ab. Das ist Schicksal. Profimusiker mögen den Dirigenten meist ohnehin nicht. (lacht)

Aber Ihre Musiker scheinen Sie doch zu mögen. Immerhin leiten Sie die KlassikPhilharmonie seit 31 Jahren.

Ja, und darüber bin ich sehr glücklich. Wegen meiner Skoliose - einer Verkrümmung der Wirbelsäule - hatte ich vor einem Jahr überlegt, ob ich vielleicht aufhören oder einen Nachfolger suchen sollte. Da hat das Orchester eine Petition an mich gerichtet: Sie wollten unbedingt, dass ich weiter dirigiere.

Das hat mich sehr gerührt und mir die Entscheidung erleichert, so lange weiter zu machen, wie ich kann.

Wie viele Konzerte dirigieren Sie im Jahr?

Mit den Silvesterkonzerten und den Hamburg Proms etwa 20 Konzerte.

Welche Stolpersteine fürchtet ein Dirigent?

Da gibt es einige. Es ist zum Beispiel ein Problem, dass sich bei Aufführungen das Tempogefühl total verändert. In der Aufregung weiß man plötzlich nicht mehr, ist das Tempo jetzt gut oder nicht.

Sind Sie vor einem Konzert aufgeregt?

Ja, aber ich kann die Aufregung positiv umsetzen und bin so bei der Aufführung noch intensiver in der musikalischen Gestaltung als bei den Proben. Das erwarten die Musiker auch von einem Dirigenten.

Nach welchen Kriterien stellen Sie Ihre Programme zusammen?

Wir spielen Mainstream-Klassik und wollen das Publikum auf hohem Niveau unterhalten. In früheren Jahren haben wir auch mal Strawinsky, Prokofjew und Schostakowitsch in den Hamburger Proms-Konzerten gespielt. Aber selbst diese Namen schrecken unser Publikum, das sehr konservativ ist, schon ab.

Besteht nicht die Gefahr der Routine, wenn man jahrzehntelang immer wieder die gleichen Stücke dirigiert?

Wenn man von der Musik gefangen ist, spielt es keine Rolle, wie oft man ein Stück dirigiert. Man hat immer wieder Lust dazu.

Gibt es ein "Patentrezept" für angehende Dirigenten?

Das Dirigieren ist eine sehr irrationale Angelegenheit, weil es auf der psychologischen Beziehung zwischen der Führungsperson und dem Kollektiv beruht. Wirklich erklären, wie das genau funktioniert, kann niemand.



Concerti, Ausgabe Februar 2010
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